Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses von EU-Ausländern gemäß § 7 SGB II mit dem Grundgesetz

Autor: Rechtsanwalt Marcel Wahnfried – verfasst am 27. April 2016
Kategorie: Sozialrecht

Der Europäische Gerichtshof hat in dem Urteil vom 15.09.2015 (Aktenzeichen: C-67/14) – Rechtssache Alimanovic – festgestellt, dass das Europarecht – hier insbesondere Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG und Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004 – dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht entgegensteht. Der in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II normierte Ausschluss enthält die nachfolgende Regelung:

 Ausgenommen sind

1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,

3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Dies hat zur Folge, dass sich Unionsbürger zur Durchsetzung ihres Leistungsanspruchs nach dem SGB II nicht mit Erfolg auf den in Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004 enthaltenen europäischen Gleichbehandlungsgrundsatz berufen können.

So misslich die Alimanovic-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes – aus argumentativer Perspektive – für die im Bereich des SGB II tätige Anwaltschaft gewesen ist, wurden durch das vorgenannte Urteil längst nicht alle rechtlichen Unsicherheiten im Hinblick auf den in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II enthaltenen Leistungsausschluss für Unionsbürger geklärt.

In diesem Zusammenhang ist weiterhin unklar, ob der Leistungsausschluss mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist. Art. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 20 GG gewährleistet rechtlich insoweit das menschenwürdige Existenzminimum. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem Grundgesetz liegt bislang nicht vor.

Vielmehr wird die Problematik der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung kontrovers diskutiert. Insoweit haben sich innerhalb der Instanzrechtsprechung zwei Rechtsauffassungen herausgebildet:

Die erste – in der Anzahl überwiegende – Auffassung geht dabei von der Verfassungsmäßigkeit des in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II aus und argumentiert in diesem Zusammenhang dahingehend, dass zwar das menschenwürdige Existenzminimum durch den deutschen Staat sicherzustellen sei, der genaue Umfang dieser Existenzsicherung jedoch nicht grundrechtlich ausgestaltet ist und dieser Umstand dem Gesetzgeber obliegt (so wohl Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.03.2016 – Az.: L 9 AS 1580/15 B ER; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – Az.: L 1 AS 2338/15 ER-B und L 1 AS 2358/15 B; Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2015 – Az.: L 3 AS 479/15 B ER).

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg geht im vorzitierten Beschluss deshalb von der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses aus, weil das über Art. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 GG geschützte menschenwürdige Existenzminimum nach dortiger Auffassung nicht schrankenlos gewährleistet sei. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg vertritt unter Verweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 (Az.: 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) die Rechtsansicht, dass dem Gesetzgeber bei der Bestimmung des Umfangs des Existenzminimums ein Gestaltungsspielraum zustehe, den dieser mit § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II umgesetzt habe (so im Ergebnis wohl: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – Az.: L 1 AS 2338/15 ER-B und L 1 AS 2358/15 B – Rn. 39 – zitiert nach Juris).

Es gibt jedoch innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit auch einzelne Gerichte, die von der Verfassungswidrigkeit des in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II enthaltenen Leistungsausschlusses von Unionsbürgern ausgehen. Das Sozialgericht Mainz hat im Jahre 2015 im einstweiligen Rechtsschutz in mehreren Beschlüssen die Auffassung vertreten, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verfassungswidrig sei (Sozialgericht Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – Az.: S 3 AS 599/15 ER; Sozialgericht Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – Az: S 12 AS 946/15 ER). Das Sozialgericht Mainz hat die Verfassungswidrigkeit dieser Regelung damit begründet, dass der Gesetzgeber, der bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren darf (Sozialgericht Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – Az.: S 3 AS 599/15 ER – Rn. 48 – zitiert nach Juris).

Weiter argumentiert das Sozialgericht Mainz damit, dass der vollständige Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II – ohne anderweitige Kompensationsmöglichkeit – eine Sicherung des Existenzminimums bereits dem Grunde nach ausschließt und deshalb nicht mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 GG zu vereinbaren ist (Sozialgericht Mainz, Beschluss vom 02.09.2015 – Az.: S 3 AS 599/15 ER – Rn. 50 – zitiert nach Juris mit Verweis auf Kommentierung von Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 SGB XII, Rn. 73).

Es gilt allerdings darauf hinzuweisen, dass das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz den Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 02.09.2015 (Az.: S 3 AS 599/15 ER) seinerseits mit Beschluss vom 05.11.2015 (Az.: L 3 AS 479/15 B ER) aufgehoben hat.

Andere Gerichte innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit gehen ebenfalls von der Verfassungswidrigkeit des Leistungsausschlusses aus und begründen dies unter anderem damit, dass ein Hilfebedürftiger nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden darf, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist (Landessozialgericht Hessen, Beschluss vom 07.04.2015 – Az.: L 6 AS 62/15 B ER – Rn. 54 – zitiert nach Juris).

Auch der 19. Senat das Landessozialgerichts NRW geht in dem Beschluss vom 20.03.2015 (Az.: L 19 AS 116/15 B ER) davon aus, dass der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bei Ausländern die Sicherstellung des Existenzminimums auch bei kurzer Aufenthaltsdauer oder kurzer Aufenthaltsperspektive in Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit umfasse.

Weiterhin führt das Landessozialgericht NRW in diesem Beschluss aus, dass dieser Anspruch weder aufgrund migrationspolitischer Erwägungen – zur Minimierung von Anreizen sozialleistungsmotivierter Wanderbewegungen – verringert noch pauschal nach Aufenthaltstiteln differenziert werden kann (Landessozialgericht NRW, Beschluss vom 20.03.2015 – Az.: L 19 AS 116/15 B ER – Rn. 27 – zitiert nach Juris).

Abschließend kann festgehalten werden, dass die Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II noch nicht abschließend geklärt ist und weiterhin die Sozialgerichtsbarkeit – und auf absehbare Zeit wohl auch das Bundesverfassungsgericht – beschäftigen wird. Den vom Leistungsausschluss betroffenen Bürgern kann daher im Rahmen dieser fortdauernden unklaren Rechtslage nur empfohlen werden, weiterhin Anträge auf Leistungen bei dem zuständigen Jobcenter zu stellen und gegebenenfalls den Rechtsweg in Anspruch zu nehmen.